„Welle-Poseidon“-Touren nur mit Zustimmung der Gestapo –
Drei Emigranten erinnern sich

Rudern unterm Davidstern

Drei Emigranten erinnern sich

Bleiern lastet der Herbsthimmel über der Dahme in Grünau. Das Nieselwetter lässt alle Kontraste verschwimmen. Wo war bloß die Regattastrecke? Die drei alten Männer diskutieren, ob die Ruderer ein wenig weiter links vom Steg oder genau gegenüber ins Ziel schossen. Damals – vor 65 Jahren, als der Steg noch dem Berliner Ruderclub „Welle-Poseidon“ gehörte. Die Männer sind gekommen, um einige alte Kameraden wiederzutreffen, und um das alte Clubgrundstück noch einmal zu sehen. Gary Matzdorff ist aus Ventura bei Los Angeles angereist, Hans Liffman aus Florida, Wolfgang Neubauer aus Santiago de Chile. In alle Welt hat es die Ruderer von „Welle-Poseidon“ verstreut. Der Club hatte vor allem jüdische Mitglieder. Viele konnten sich durch die Emigration retten. Einige sind in den Gaskammern der Nazis umgebracht worden.

Christliche Mitglieder solidarisch

Rechts vom Steg liegen Kieselsteinchen unter ein paar Bäumen. „Dort hat mein Vater immer gesessen und Akkordeon gespielt“, erinnert sich Matzdorff. 1935 ist er in den Verein eingetreten, mit vierzehn. Ein Geschäftspartner des Vaters – eines Pelzgroßhändlers – hatte ihn eingeführt. Damals war der Rudersport eher etwas für gehobene Kreise. Der Verein zählte Unternehmensvorstände und Firmeninhaber zu seinen Mitgliedern. Am Wochenende saß man gesellig beisammen. Zu der Zeit ruderten noch manchmal Christen und Juden im gleichen Boot. Die Religionszugehörigkeit spielte für die Jungen keine Rolle. „Wir haben nicht danach gefragt“, sagt Matzdorff.

Offiziell war der Club damals schon ein rein jüdischer Verein. Nach der Machtergreifung hatten die Nazis immer mehr Druck auf die christlichen Mitglieder ausgeübt. Sie sollten sich von ihren jüdischen Kameraden trennen. „Der Vorsitzende des Clubs, Willy Coper, wurde zur Gestapo bestellt“, sagt Liffman. Die Nazis hatten aber nicht mit der Solidarität der christlichen Vereinsmitglieder gerechnet. Sie weigerten sich, die Juden aus dem Club zu werfen, und traten im Mai 1934 stattdessen selbst geschlossen aus.“

Die Christen sagten, die Juden finden keinen anderen Club“, berichtet Matzdorff. Der „Berliner Ruderclub Welle-Poseidon“ wurde zum „Jüdischen Ruderclub Welle-Poseidon“. Doch die alten Freundschaften zwischen Christen und Juden wurden auch nach der Trennung weiter gepflegt. Einige christliche Sportler ruderten noch ein paar Jahre unter der Hand weiter im alten Club, auch der christliche Trainer Erwin Michaelis blieb im Verein.

Matzdorff streicht mit der Hand über den Rumpf eines Ruderbootes, das auf einem Ständer liegt. „Das ist ja Plastik“, sagt er. Und Hans Liffman lästert: „Das ist ja kein Ruderboot.“ Frotzeleien unter alten Herren. Heute sitzt auf dem Gelände der Ruderverein „Empor“, der zu DDR-Zeiten auf das Grundstück kam.

Zwei Jahre nach der Olympiade 1936 musste „Welle-Poseidon“ sein angestammtes Grundstück an der Regattastrecke räumen. Während der Wettkämpfe war noch die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf Grünau gelenkt. Also konnten die Nazis den Verein zunächst nicht vertreiben – aus Prestigegründen, meint Liffman. „Sobald die Olympiade vorbei war, hat man gesagt: Die Juden können hier nicht bleiben.“ Der Ruderclub musste 1938 auf die Bullenbruchinsel gegenüber vom Plänterwald umziehen.

Das alte Grundstück ging an den linientreuen Verein „Alemannia“. Während andere Mitglieder das Gelände als verwahrlost und sumpfig beschreiben, erinnert sich Matzdorff gerne an die Bullenbruchinsel. „Das war meine schönste Zeit“, sagt der 80-Jährige. Immer sonnabends nach Dienstschluss fuhr er mit S-Bahn und Straßenbahn raus aufs Clubgelände.

Die Lebensbedingungen waren dabei viel komplizierter geworden. Die Familie war aus der vornehmen Schöneberger Motzstraße in den Prenzlauer Berg umgezogen, für den Vater war es schwierig, ein Einkommen zu erzielen, und Gary Matzdorff hatte das Gymnasium verlassen, um für die bevorstehende Emigration den Beruf des Ledermachers zu erlernen.

Flucht vor dem Alltag auf die Bullenbruchinsel

Auch das Rudern war eingeschränkt. Jede Fahrt mussten die Clubmitglieder bei der Gestapo anmelden, erinnert sich Matzdorff. Bisweilen wurden die Vereinsmitglieder, die den Davidstern in der Flagge führten, von anderen Ruderern angepöbelt.

Doch das stärkte auch den Zusammenhalt. „In den letzten Jahren drehte sich alles um den Club“, so Matzdorff. Die ganze Familie bis hin zur Großmutter kam oft hinaus auf die Bullenbruchinsel. Schließlich hatte man sonst nichts mehr, um dem Alltag zu entfliehen. Auf der kleinen Insel habe es viel „privacy“, viel Intimität gegeben, sagt Matzdorff, der bisweilen englische Brocken in sein Deutsch einfließen lässt. 1939 emigrierte Matzdorff mit seiner Familie zunächst nach Shanghai, wo er Liffman und andere Clubkameraden wiedertraf. Viele Berliner Juden wählten damals den Weg der Ausreise nach Shanghai. Die von Japan besetzte chinesische Hafenstadt war zu der Zeit der einzige Ort, für den Juden kein Visum brauchten.

Der heute 85-jährige Neubauer wurde 1938 von seiner Firma nach Chile geschickt und konnte noch zwölf Leute nach sich ziehen. Doch nicht allen Clubmitgliedern gelang die Flucht.

Stumm stehen die Männer am Steg und blicken in den Nieselregen. Besuche wie hier auf dem Clubgelände seien lediglich „memorials“, Gedenk-Veranstaltungen, sagt Hans Liffman trocken. Gefühle empfinde er dabei nicht, meint der 83-Jährige. „Wenn du die Familie in Auschwitz verloren hast, kannst du keine Gefühle mehr haben.“

Monatliche Treffen in New York

Nach dem Weltkrieg wurde der Verein, der sich 1939 zwangsauflösen musste, von den ehemaligen christlichen Mitgliedern wiederbelebt. In den 50er Jahren zog Welle-Poseidon an den Wannsee. Die emigrierten Mitglieder hielten ihrerseits Kontakt untereinander und mit den alten Clubkameraden in Deutschland. In New York habe es sogar „monthly meetings“, monatliche Treffen gegeben, berichtet Liffman, der nach einigen Jahren in Shanghai weiter in die USA emigriert war.

Gary Matzdorff und seine Familie hatten ebenfalls eines der begehrten Einreisevisa für die Vereinigten Staaten erhalten. Dort jobbte Matzdorff in verschiedenen Berufen, gründete in der Garage eine Lederwarenfabrik und machte Immobiliengeschäfte. In Minneapolis hat er einige Jahre noch gerudert. Bis er einmal kenterte. Dann hatte er keine Lust mehr.

Antje Schroeder

Artikel erschienen in der
Märkischen Allgemeinen am 01.12.2001
(Wochenmagazin Die Märkische)